Aufstand der Alten

Kurz nach dem Atomunglück von Fukushima gingen in ganz Japan hunderttausende Menschen auf die Straßen um gegen die Nutzung von Atomkraft zu protestieren. 6 Jahre nach Katastrophe scheint sich die Bewegung verlaufen zu haben. Bei meinem ersten Besuch einer Anti-Atom Demo in Japan war es vor allem die ältere Generation, welche ihre Stimme erhob. Ein Erfahrungsbericht.

Kokubuncho ist das Ausgehviertel der japanischen Großstadt Sendai. Neben unzähligen Restaurants, Bars und Clubs reiht sich auch ein Bordell neben das andere. Nachts sind es vor allem StudentInnen und japanische Schlipsträger, sogenannte „Salarymen“, welche das Viertel durchstreifen. Alle scheinen sie auf der Suche zu sein nach Rausch und Sex. Es scheint, als ob die Regeln der sonst so strikten japanischen Gesellschaft hier jeden Abend zumindest für ein paar Stunden ausgesetzt sind. Besauf dich, raste aus, hol dir einen billigen Fick. Und morgen wieder brav zur Arbeit. Selten wird die Schizophrenie des Turbokapitalismus so gut sichtbar wie in Vierteln wie Kokubuncho, welche es in Japan zuhauf gibt.
Vielleicht ist es gut, dass es gerade dieser Ort ist, welcher für die Austragung einer Anti-Atom-Demo ausgesucht worden ist. Widersprüche aufzeigen und den Finger in die Wunde legen, das soll ein Protest doch schließlich auch bewirken, oder? Es ist mittlerweile das zweihundertste mal, dass sich die Gruppe „Miyagi No Nuke“ in Sendai versammelt. Jeden Freitag, seit Jahren nun schon, machen AktivistInnen darauf aufmerksam, was mit der Nutzung der Atomkraft in Japan ihrer Ansicht nach falsch läuft. Dass von Atomkraftwerk Fukushima immer noch radioaktives Material ins Meer fließt. Dass die Regierung Messdaten über die Strahlungsintensivität verheimlicht oder fälscht. Dass von den zehntausenden Menschen, die wegen des Atomunfalls evakuiert wurden immer noch tausende in behelfsmäßigen Unterkünften sitzen. Alleinegelassen von einer Regierung, welche ihnen keine finanzielle Unterstützung zukommen lässt. Ignoriert von einer Gesellschaft, in der es zu weiten Teilen nicht gerne gesehen wird aufzufallen. Und als Opfer eines Atomunfalls ist man ein wandelndes Fanal gegen die Atomkraft. Ein lebendiger Widerspruch gegen den japanischen Traum des fleißigen und angepassten Kollektivs, welches nie aufmucken sollte.

Plakat zur 200. Demo der „Miyagi no Nuke“-Gruppe.

Etwa 200 Leute haben sich schon versammelt, als ich an der Demo ankomme. Auf der Bühne steht ein Chor von älteren Semestern, welche Widerstandslieder zum besten gibt. Kämpfe, tapfer, gemeinsam, unsere Zukunft, unsere Kinder. Es werden Reden gehalten. Mit weniger Pathos, sondern viel persönlicher. Darüber, wie man seinen Heimatort in Fukushima vermisst. Darüber, wie man sich um die Zukunft seiner Enkel sorgt. Danke, dass ihr alle da seid. Mit tränen in den Augen und auch mit Zorn in der zittrigen Stimme. Nicht fehlen darf natürlich auch der für Japan typische rituelle Ablauf der ganzen. Alles hat seine Ordnung, seinen Platz.

Ich bestaune die teils wirklich coolen selbstgemachten Transparente, welche mit viel Liebe gemacht wurden.
Die meisten scheinen sich zu kennen, man begrüßt sich herzlich und die wenigsten machen den Eindruck, als wären sie das erste mal auf einer Demo.

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Dann geht es endlich los. Ganz vorne der Lautsprecherwagen, der ausschaut als wäre er einer Doku über Greatful Dead-Fans entsprungen. Es folgen gleich die TrommlerInnen, hie und da hat wer eine Gitarre mit. Und wenn der Lauti mal nichts durchsagt, wird Stimmung gemacht. Gut, dass es so laut ist, denk ich mir.
Die ersten paar hundert Meter gehen ein paar jüngere Männer neben der Demo her. Alle drei mit aufgestylten Haaren und im Maßanzug.

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Ich kann nicht verstehen was sie sich erzählen, aber sie scheinen nicht gerade begeistert von der Demo zu sein. Wahrscheinlich ein paar halbstarke Chinpira, also die jüngste Stufe der Yakuza, der japanischen Mafia, welche ja seit jeher politisch weit rechts steht. Seit einiger Zeit rekrutieren Scheinfirmen der Yakuza auf den japanischen Arbeiterstrichs Obdachlose und Tagelöhner und lassen sie in den verseuchten Gebieten die kontaminierte Erde wegschaufeln. Die Regierung sieht weg bzw. unterstützt das noch. Kokubuncho, das Vergnügungsviertel, ist das Revier der Yakuza. Natürlich sehen sie so eine Demo nicht gerne.
Nach einer guten Stunde ist die Demo dann auch schon zu ende. Ich spreche noch mit einem Redakteur der kommunistischen Tageszeitung Akahata (Rote Fahne), welcher wie ich Jahrgang 84 ist somit ebenfalls zum jungen Gemüse auf der Demo zählt.
Danach dem erfolgreich absolvierten Protest werde ich noch die Nachbesprechung der Demo eingeladen, an der verschiedenste Anti-AKW-AktivistInnen teilnehmen. Ich habe das Gefühl, hier falle ich weniger dadurch auf, dass ich ein Gaijin mit beschränkten Japanischkenntnissen bin, als mehr durch mein Alter. Der schlagkräftige 80jährige Bauer der neben mir sitzt hat aber mehr Energie als viele, viele japanische Jugendliche und StudentInnen die ich bisher kennenlernen konnte. In diesem Land ist in so vielen Facetten der Wurm drin, denk ich mir und höre mir die Stories an, die am Plenum so besprochen werden. Wie man Kontakte knüpfen kann, wie man mehr und mehr Leute auf die Demos locken kann, vor allem die jüngeren Generationen. Als ich darauf angesprochen werde, dass „In Europa doch viel mehr junge Leute auf Demos unterwegs sind“, sag ich zuerst mal ein wenig stolz „Ja!“, lenke aber gleich mal ein als mir einfällt, dass es in Wirklichkeit ja auch immer die üblichen Verdächtigen sind und ich in Wien in einer linken Blase gelebt habe.
Falls ich Zeit habe, werde ich mich in Zukunft aber sicher noch an mehreren Protesten der Miyagi No Nuke-Gruppe beteiligen. Nicht, weil ich den Altersdurchschnitt senken will, aber weil es, egal ob Japan, Europa oder Sonstwo, außer Frage stehen sollte gegen AKWs aufzutreten.

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Genpatsu bedeutet Atomkraftwerk auf Japanisch

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