Corona und Kōenji

In Tokyos linksalternativen Stadtteil Kōenji sind durch Corona-bedingte Schließungen auch linke und gegenkulturelle Orte akut in ihrer Existenz bedroht. Neben der Forderung nach einer finanziellen Hilfe seitens der Regierung, ist mittlerweile auch ein Mietenstop im Gespräch.

Die Nantoka-Bar im Tokyoter Stadtteil Kōenji ist ein wichtiger Treffpunkt für AktivistInnen, Freaks, Alternative etc.

Der Fahrstuhl ist mittlerweile fast schon eine Berühmtheit. Seine Tür ist übersät mit linken Stickern aus aller Welt. Antifa-Gruppen aus Indonesien und der Türkei. Stickers von AZs und besetzten Häusern aus Deutschland, Slowenien und Frankreich. Linke Punkrock-Bands aus Japan. Kunstkollektive aus den USA. Man sieht, hier ist ein Ort, an dem ähnlich gesinnte Leute aus aller Welt zusammenkommen.

Die Rede ist vom Manuke Guest House, ein günstiges, kollektiv verwaltetes Hostel in Tokyos linken Szeneviertel Kōenji. Hinter der Absteige steht ein Kollektiv Namens Aufstand der Amateure oder auch Shirōto no Ran (素人の乱), welches seit mehreren Jahren versucht, sich mit einem Mix aus Stadtteilarbeit, straightem politischen Aktivismus, der Schaffung alternativer Räume, Underground-Subkultur und alternativem Wirtschaften Nischen im Tokyoter kapitalistischen Einerlei zurückzuerobern. „Tokyo ist eine Metropole voll von beschäftigten Menschen, die abgestumpft durch einen hektischen Alltag hasten. Dieses Bild muss ich dir leider kaputt machen, denn es gibt da einen kleinen Stadtteil voll von Anarchie und Herzlichkeit: Koenji.“ – so beschreibt das Manuke Guest House nicht nur den eigenen Aktivismus, sondern auch den Stadtteil in dem es anzufinden ist.

Neben dem Guest House betreibt das Aufstand der Amateure-Kollektiv in unmittelbarer Nähe auch noch eine Kneipe (wer schon mal in der Nantoka-Bar war, wird sie nicht so schnell vergessen) und einen Recycle-Shop. Die Einnahmen gehen nicht nur zugunsten der eigenen politischen Arbeit, sondern zahlen auch die Löhne vieler Leute, die in den Läden arbeiten. Klassische linke Selbstausbeutung, also Arbeit zum Nulltarif „für die gute Sache“ wird man hier nicht finden. Es geht auch darum, seinen Lebensunterhalt auch außerhalb strikter japanischer Arbeitskultur mit ihren Überstunden, autoritären Strukturen und Bekleidungsvorschriften führen zu können.

In ganz Kōenji findet man eine Vielzahl solcher kleinen Läden. Man kennt sich und unterstützt sich auch gegenseitig so gut es eben geht.

Selbstdisziplin

Im Gegensatz zu vielen anderen Teilen der Welt ist in Japan noch kein Corona-bedingter Lockdown im Gange. Laut Regierung fehlt dafür das gesetzliche Rahmenwerk, Kritiker werfen ihr hingegen Untätigkeit vor und dass sie vielmehr um die Wirtschaft als über die Gesundheit der BürgerInnen besorgt sei. Die Zahlen steigen von Tag zu Tag, mit 9.4.2012 liegt man bei 5238 Infizierten und 96 Toten. Nicht verstummen will die Kritik, man habe die Infektionszahlen durch im Vergleich zu anderen Industrienationen sehr kleine Anzahl an durchgeführten PCR-Tests künstlich niedrig gehalten um die Durchführung der olypmischen Spiele nicht zu gefährden.

Mittlerweile wurde statt einem gesetzlichen Lockdown bzw. eine Quarantäne eine durch die Regierung bzw. Präfektursverwaltungen initiierte „Bitte zur Selbstdisziplin“ an die BürgerInnen durchgesetzt. Kurz gesagt: Man bittet die Leute zuhause zu bleiben und Events abzusagen. Diese Bitte ist – eine Bitte. Sie beinhaltet keinerlei gesetzliche Folgen für diejenigen die sie nicht befolgen.

Deswegen sind auch heute noch eine Vielzahl an Geschäften, Bars, Nachtclubs und anderer Lokalitäten offen. Vor allem für Kleingewerbe ist es oft eine Überlebensfrage, wie man denn jetzt weiter verfahren soll. Seitens der Regierung gibt es bisher keinerlei konkreten Pläne, wie denn der wirtschaftliche Schaden für Kleingewerbe abgewendet werden soll.

Hajime Matsumoto vom Aufstand der Amateure-Kollektiv hat aus diesem Grund eine wütende, vor Zynismus triefende Schrift verfasst. Gegen Ende lässt er durchblicken, dass die betroffenen subkulturellen Läden in Kōenji die Miete einfach verweigern sollten. Sollte es wirklich dazu kommen, dass die über Jahre aufgebaute gegenkulturelle Infrastruktur in Kōenji zum Erliegen käme, wäre das ein weiterer Verlust für die japanische Linke.


Mitteilung über die Schließung aller Geschäftslokale.
Unsere List und Strategie: Befolgen der Notstandsregeln nach Strich und Faden!

Die Corona-Invasion und das Leiden der Ein-Personen-Läden.

Die Zahl der Corona-Kranken in Tokyo steigt rapide an. Es heißt, dass die Regierung nun endlich den Notstand ausrufen wird. Wirklich arg, aber wenn man darüber nachdenkt wäre es am konsequentesten, würde man die Wirtschaft größtenteils stilllegen um Ansteckungen zu verhindern.

Jedoch führt das bei denjenigen, die alleine oder mit wenigen Personen einen kleinen Laden führen, zu Kopfzerbrechen. So auch in Kōenji, wo es viele solcher Läden gibt. Eine vorübergehende Ladenschließung ist zwar Thema, aber die LadenbesitzerInnen sagen unisono: „Tjaa, ich würde zwar gerne zumachen, aber dann wäre ich mein Einkommen los und müsste sterben. Ich kann nicht schließen!“. Es sei wahrscheinlicher zu sterben wenn man den Laden schließt als dass man ihn weiter offen lässt und an Corona stirbt, wird gesagt. So halten fast alle widerwillig weiter offen. Solche Schwierigkeiten kennen Leute mit fixem Monatseinkommen, beispielsweise Politiker, nicht. 

Gäbe es eine einheitliche Geldleistung oder bedingungslose Unterstützungsmaßnahmen, könnten alle zusperren, aber man weiß bei den von der Regierung veröffentlichten Hilfsmaßnahmen überhaupt nicht ob und wann man sie in Anspruch nehmen kann.

Im Ausland werden Geldleistungen für Einzelpersonen und Hilfsgelder für Läden die zusperren mussten freigegeben. Oftmals gibt es auch ein Delogierungsverbote für Menschen, denen wegen der Corona-Krise das Geld für die Miete ausgegangen ist. In Japan ist von solchen Maßnahmen nichts zu hören und zu sehen. Noch viel schlimmer, die Miete des Ladens eines Freundes wurde diesen Monat sogar angehoben. „Ach kommen Sie, verschonen Sie mich zumindest damit.“ bat er seinem Vermieter, doch dieser hat ihm die Bitte mit einem kalten „Auf keinen Fall!“ abgeschlagen (wie arg ist das bitte!?). In solch einer Situation kann halt niemand seinen Laden zusperren. 
Scheisse, was tun?!?!

Der Trick: Endlich eine gemeinsame Ladenschließungsstrategie in Bewegung setzen! 

Herumzugrübeln wurde nervig und da ich von den Luschen der japanischen Regierung auch so ziemlich die Nase voll habe, mache ich einen verzweifelten, entscheidenden Schritt! Gesagt getan, also über ich mich in Selbstdisziplin, befolge was die Regierung von mir verlangt und führe  ein Experiment durch, von dem ich nicht weiß, wie es enden soll. Arg. So soll man sich ja nicht in schlecht zu lüftenden, geschlossenen Räumen aufhalten. Deswegen haben wir uns entschieden, mit der Kneipe “Nantoka-Bar”, dem Recycle-Shop und dem “Manuke Guesthouse” genannten Hostel alle Lokale des Shirōto no Ran-Kollektivs erfolgreich der Schließung zuzuführen, haha! Und da dadurch fast unser gesamtes Einkommen erlischt, gibt’s auch keine Aussicht darauf, dass wir die Miete zahlen können. Aber das ist mir scheissegaa-ha!

Bisher gibt es ein paar leichte, kaum verlässliche Hilfsmaßnahmen. Die werde ich versuchen zu beantragen, ebenso Online-Verkauf. Sehr geehrte Damen und Herren: Wohin zum Teufel soll das enden? Was für ein Spaß.
Wenn die Regierung sogar uns immer brav und fleißig arbeitende Musterschüler an Staatsbürgern (pff!) links liegen lässt, dann muss sie wohl wirklich verflucht sein.

Ach ja, so nebenbei:  Regierung und Yakuza gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Tagtäglich lassen sie einen in ihrem Revier (= Staat) arbeiten, kassieren Schutzgeld (= Steuern), kümmern sich auch in harten Zeiten um einen, und wenn man in Stress verwickelt wird kommen unheimliche Kerle (= Polizei) die dann irgendwas für einen tun. Das heißt jetzt, wenn die Regierung jetzt das Schutzgeld weiter eintreiben wie es ihnen gefällt und sie dann nichts dafür tun würde, dann wäre sie ja noch schlimmer als die Yakuza, oder nicht?!

Nun, wir befolgen jetzt mal die Bitte der Regierung und machen alle Lokale zu. Jeden Tag ohne Geschäftslokal arbeiten, danach brav auf die Regierung hören und daheim chillen. So leben wir von nun an. Hey? Klingt doch überraschend angenehm, yeah!

Liebe Freunde! Fürchtet euch nicht! Hören wir auf die Regierung und legen wir Arbeiten nieder, in denen wir in Kontakt mit anderen kommen. Hören wir damit auf aus unseren Wohnungen und Zimmern raus zu gehen! (Okay okay, wirklich jetzt, es wichtig schnell etwas gegen das Corona-Virus zu machen.) Ganz bestimmt kommt bald unsere Regierung die wie wahnsinnig Steuern von uns eingetrieben hat und hilft uns. Und wenn sie das nicht tut und wir dann alle in Schwierigkeiten sind, dann holen wir uns die Steuern einfach wieder zurück! 
Andernfalls zahlen wir von jetzt an halt einfach keine Miete mehr, oder?

Fortsetzung folgt!

Quelle: Hajime Matsumotos Blog 
Erstveröffentlichung: 06.04.2020

2 Gedanken zu „Corona und Kōenji

  1. Danke, lieber Gregor Wakounig! Wie versprochen, suche ich nach einem Weg, das in unsere japanologische Bildung einfließen zu lassen. Ich bin zur Zeit im Forschungsfreisemester (wollte iegentlich längst inJapan/Kyoto sein – Sch…) und denke über einen kleinen Blog auf unserer HP nach. Dürfte ich den Text dort hineinsetzen? Und dann greife ich ihn später auf… Hier übrigens ein tolles Essay, das die Abe’schen Notstandsmaßnahmen bewertet, kritisiert – sollte so weit wie möglich verbreitet werden! Per Google aus dem Italienischenübersetzt, daher natürlich verbesserungsfähig, aber was soll’s …
    Schöne Grüße, Steffi Richter

    http://lobosuelto.com/estado-de-emergencia-japones-fujita-hirose/?fbclid=IwAR1xDNUSw-r10tCPjEbGndEa1YLbgeVADf-I5zPRvh63vCMZ5bq9aNM2mY8

    „It is in our becoming-virus in which the crown becomes a political, revolutionary virus.“ translated by Google-machine.

    On April 7, Shinzo Abe, the Japanese prime minister, declared a „state of emergency,“ which gives local authorities in Tokyo and six other central prefectures in the country the legal powers to take restrictive measures to stop the spread of the coronavirus. . However, this Japanese „state of emergency“ is formally very different from the measures applied in other countries with similar denominations. The Japanese measure allows local authorities to only make „requests“ to the population (citizens, companies, institutions) without endowing themselves with coercive power to sanction or penalize those who do not respect them. It is the simplest exercise of „power“ as defined by Michel Foucault: „action over other actions“, „conduct of behaviors“.
    Why is the Japanese government content with this pure form of conduct? Why is it one of the most disciplined populations in the world? Why are the Japanese „good subjects“? No. After April 7, in the regions placed under the state of emergency, although it is true that all educational and cultural institutions were closed and that many companies implemented telework with their employees, the vast majority of shops and restaurants remain On the contrary, they are always open, and many people continue to go out on the street with family or friends, without “social distancing”. The Japanese are not as obedient subjects, and the Japanese government certainly knows that perfectly well.
    If so, why did the Shinzo Abe government choose a measure in which the Foucaultian maxim is made transparent: „power is exercised only over free subjects and only to the extent that they are free“? Why didn’t you take a stronger step? Because it would cost him a lot. In a democratic context such as Japan today, a government could not take coercive action without compensating those who suffer economic damage caused by it. Such a counterpart is one that the Japanese government does not want to pay at all. It is true that the Japanese state of emergency is accompanied by a package of economic measures (valued at 911,000 million euros, equivalent to 20% of Japanese GDP), however these measures are not compensatory, but rather „grateful“ to those who agree to the „requests“: „I ask you to stay at your house.“ -„Agree.“ -„Very friendly. I give this to you as a thank you. ” The Japanese state of emergency is not contractual but purely inciting, and an elemental calculation tells the Abe government that a social contract would be much more expensive than a simple suggestion.
    The Japanese government knows that its move will not be able to stop the spread of the virus. Perhaps it is one of the rare governments that still have „herd immunity“ at this time (in mid-April). But he also knows that the number of deaths necessary to reach collective immunity under a neoliberal hospital system like the current Japanese could provoke quite a large indignation among the population. Wouldn’t this popular outrage constitute an undesirable political cost for the Liberal Democratic Party in power in coalition with the Komeito? No. On the contrary, it would bring enormous benefit if it could be directed towards the current Japanese Constitution. In the April 7 statement, Abe insisted on the fact that the Japanese „state of emergency“ is not a „lockdown“ (curfew) and cannot be under the country’s current Constitution. In other words, it is the Constitution that would make many people fall under the Covid-19 epidemic, preventing the government from taking the necessary measures to protect the population. The promulgation of a new „properly Japanese“ Constitution is the supreme yearning of Shinzo Abe and his fascist gang from the PLD, who hate the 1946 Constitution „imposed by the American leftists of the time [i.e. new-dealers] ”.
    In fact, since coming to power in 2013, the Abe government had on its agenda a constitutional reform (of article 9, which prohibits the Japanese state from equipping itself with armed forces) as the first step towards its north. According to its initial calculation, the celebration of the Olympics in Tokyo in July and August 2020 should announce to international society the dawn of a „new era“ of the Japanese nation, which would have retaken its Constitution in its own hand and would have defeated the Fukushima nuclear beast at the same time: Glory to Shinzo Abe, the greatest leader of post-war Japan! And that’s why Tokyo 2020 is so dear to the Prime Minister and his government, and that his battle against the coronavirus for the first two months (January to March) consisted of purposely underestimating its effect on Japanese territory to represent this as a miraculously crown free area, sanitary always ready to host the world event.
    On March 24, under external pressure, the Japanese government decided to postpone the Olympics for one year, accepting the real situation of the pandemic in the country. This forced him to change his calculation: the postponed Tokyo 2020 will now be held as an event „witnessing humanity’s victory over the new coronavirus,“ in addition to the double victory of the Japanese nation over its „left-wing“ Constitution and radioactivity, and Abe himself will no longer be just the greatest leader of the Japanese nation but that of all humanity. And it is according to this new calculation according to which the Japanese government declared a state of emergency on April 7.
    The date of March 24 is particularly important as it marks a radical epistemological and strategic turn in the Japanese government’s estimate of the coronavirus. Like all war machines, this viral war machine „is external to the state apparatus“ (Deleuze and Guattari), and it moves identifying with the movements of absolute deterritorialization of the Earth. And this exteriority first appeared as a pure threat to the Abe government, which would develop during the first two months an optical, illusionist policy, consisting of covering up its physical effect to the maximum in the interior of Japan. From there, a clandestine alliance of the population was formed on the opposite side with the virus against the government and its denial operation. But, as of March 24, it is the government itself that has appropriated this viral war machine to carry out a physical and metaphysical war against the population. The one that was declared on April 7, in fact, is nothing but this civil war to impose on the Japanese population a fascist Constitution, a permanent exposure to radioactivity and a destructive mega-party of capital.
    How can you combat this harmful government? The conjunctural opportunity resides in the fundamental „exteriority“ of the viral war machine currently present. We must always ally ourselves more closely with the viral movements that continue to overflow all the instrumentalizations on the part of the state apparatus. It is in our becoming-virus in which the crown becomes a political, revolutionary virus. If such a double becoming was able to postpone Tokyo 2020, it will certainly also be able to push it to its final annulment and to overthrow the neoliberal fascist government of Shinzo Abe.
    Tokyo, April 13, 2020

    • Da ich derzeit gerade keine Zeit für eine ausführliche und tiefergehende Antwort habe, in aller Kürze: Natürlich dürfen Sie den Text, bzw. auch alle anderen Texte auf dieser Page auch auf ihrem Blog benutzen.

      LG aus Tokyo, Gregor Wakounig

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