Die Freiheit der Straße

Seit Ende Mai protestieren AktivistInnen im Tokyoter Ausgehviertel Shibuya gegen ein Alkoholverbot im öffentlichen Raum. Die widerständigen Straßenpartys der „On The Road Shibuya“ genannten Gruppe sind eine hedonistische Antwort auf autoritäre Stadtpolitik, welche mit Vertreibung der Armen und Gentrifizierung Hand in Hand geht.

“Lasst uns saufen, lasst uns saufen!“, ertönt es ende Juni lautstark durch die Straßen von Tokyos weltbekannten Ausgeh-Bezirk Shibuya. Ein mobiles Techno-Soundsystem, LGBT- und anarchafeministische Fahnen lassen es erahnen, dass es eine Demo ist die sich ihren Weg bahnt. Seit der Fukushima-Katastrophe von 2011 kommt es in Japan, getriggert von der Anti-Atom-Bewegung, zu einem wiederaufleben des Straßenprotests.

Nicht nur die Parolen sagen es, auch auf dem Fronttransparent steht die Forderung eine/n auf der Straße Alkohol trinken zu lassen. Eine Sauf-Demo? Eine Manch eine/r mag sich fragen, was das denn soll.

„Lass uns auf der Straße saufen!“. Demo gegen das Alkoholverbot in Shibuya, Tokyo. 28.6.2019

Nun, ganz so einfach ist es nicht. Der Grund der Demo ist eine vor wenigen Wochen beschlossene Verordnung des Bezirksparlaments Shibuya, welche das Trinken von Alkohol in in der Öffentlichkeit zu Halloween und Silvester verbieten soll. An diesen beiden Abenden verwandelt sich Shibuya nämlich seit ein ein paar Jahren zu einer riesigen Straßenparty an welcher zehntausende Menschen teilnehmen.

2018 kam es zu einem, für europäische Verhältnisse wohl unbedeutenden Zwischenfall. Eine Gruppe betrunkener junger Männer schmiss einen Kleinlaster um, worauf es zu ein paar Festnahmen durch die Polizei kam. Bei einer Straßenparty dieser Größe nichts außergewöhnliches, möchte man meinen. Nichtsdestotrotz stürzten sich japanische Massenmedien auf das Ereignis und schrieben noch Wochen später über den Vorfall. Auch die öffentlich-rechtliche Fernsehstation NHK sendete suggestive Bilder in denen vermittelt wird, bei Silvester- und Halloweenparties in Shibuya handelt es sich Events von halbstarken Kleinkriminellen.

Shibuya zu Halloween wie es auf NHK dargestellt wurde. Halbstarke Kerle beim Saufen.
Cosplay, Jugendliche und TouristInnen sind viel eher, was Halloween in Shibuya ausmacht.

Die aufgeheizte Stimmung nutzte der Bezirk um ein Alkoholverbot an Halloween und Silvester durchzusetzen. Dagegen demonstriert die Gruppe „On The Road Shibuya“ (auf Japanisch: „Verband für den Schutz der Freiheit auf der Straße“ – 路上の自由を守る会) seit Ende Mai mit Straßenpartys und Demonstrationen. Die Gruppe demonstriert aber nicht nur gegen das Trinkverbot, sondern stellt dieses auch in einen breiteren Kontext. Es geht um Vertreibung von Armen aus dem Bezirk, um Gentrifizierung und was die olympischen Spiele in Tokyo 2020 damit zu tun haben.

Das Interview wurde per Online-Messenger-Dienst auf Japanisch geführt und von mir übersetzt. Die Japanische Version des Interviews wird in einigen Tagen hier am Blog veröffentlicht.

Zatsudan: Hallo. Könnt ihr am Anfang vielleicht erklären wer ihr seid? Wann ihr euch gegründet habt und wofür ihr einsteht?

On The Road Shibuya: Angefangen hat es damit, dass Mitte Mai bekannt wurde, dass der Bezirk Shibuya für den öffentlichen Raum ein Alkoholverbot machen will. Eine Freundin hat daraufhin gedacht das kann gefährlich werden und vorgeschlagen, dass wir eine Aktion auf der Straße machen. Anfangs sagte sie sogar, dass wir eine einwöchige Straßenparty machen sollten 😀

Unser Ziel ist es, dass der Bezirk Shibuya das Alkoholverbot wieder zurückzieht.Jedoch, viel wichtiger ist die Freiheit der Straße. Viel wichtiger als ein Raum in dem man Geld ausgeben muss ist uns ein Raum in dem man den das was einem Spaß macht selbst erschaffen kann. „Die Freiheit der Straße zu beschützen“ heisst, diese Freiheit davor zu schützen von den Behörden und Unternehmen geraubt zu werden.

Zatsudan: Wie schauen eure Aktionen aus?

On The Road Shibuya: Während der Bezirksverordnetenversammlung, welche Japan über einen Zeitraum von mehreren Wochen abgehalten wird, hielten wir an fast jedem regenfreien Tag Reden, verteilten Flyer und sammelten Unterschriften. Die gesammelten Unterschriften übergaben wir dann gemeinsam mit unserer Petition an den Bezirk. Wir sprachen auch mit Bezirksabgeordneten und machten am 28. Juni auch eine Demo.

Zatsudan: Anders als bei normalen Demos bekommt man bei euren Aktionen den Eindruck, dass es Straßenparties bzw. Happenings sind.

On The Road Shibuya: Yes 😀

Nun, erstens ist das die Art und Weise wie wir üblicherweise Aktionen machen, also die natürlichste Art und Weise. In unserer Gruppe gibt es Leute die schon länger kontinuierlich „Straßen-Nabe“ machen. Außerdem ist es für uns am wichtigsten sich das Vergnügen, den Spaß zurückzuholen, weswegen diese Aktionsformen unter uns am meisten verbreitet sind.

Zusammen auf der Straße sitzen und trinken. Ein Straßenprotest von „On The Road Shibuya“
Auch ein Speaker’s Corner an dem jede/r die Meinung kundtun kann ist regelmäßiger Bestandteil des Protests.

Zatsudan: Was ist „Straßen-Nabe“, magst du das erklären?

On The Road Shibuya: “Nabe“ ist ein typisches Familienessen. Man sitzt um einen „Nabe“ genannten Topf und verbringt so die Zeit miteinander. „Nabe“ schafft eine körperliche Vertrautheit, Gemeinsamkeit. Wenn man beispielsweise nur Reden hält, ist das für politische Bewegungen zwar normal, aber die Hürde, sich zur Aktion dazuzugesellen ist hoch. Gemeinsam zu essen ist aber etwas alltägliches das jeder macht und machen kann. Man kann Politik und das Alltagsleben ja nicht voneinander trennen, nicht wahr?

Zatsudan: In einem eurer Texte steht, dass durch das Trinkverbot Shibuya seiner „Kultur, Entwicklung und Lebendigkeit beraubt wird“. Aber wenn man sich die politischen Verhältnisse des Bezirks anschaut sieht man, dass die rechtsnationale LDP und die ihr religiös-konservativer Koalitionspartner KOMEITO den Bezirk regieren. Da kommt man nicht gerade auf die Idee, dass Shibuya ein lebendiger Jugendbezirk ist. Was ist also das Besondere, das Einzigartige an Shibuya?

On The Road Shibuya: Shibuyas Bürgermeister Ken Hasebe hat als erster in Japan die eingetragene Partnerschaft für LGBT-Paare erlassen, die Pride Parade unterstützt und verkauft Shibuya dadurch als progressiven Bezirk. Ob Shibuya ein konservatives Image hat? Ich glaube nicht.

Hasebe ist ein Businessman der von einer großen Werbefirma Namens „Hakuhōdō” kommt. Während er Shibuyas Image als modernen, lebendigen Jugendbezirk benutzt, steht er für eine Stadtpolitik welche den Wünschen profitorientierter Großunternehmen entspricht. Diese Haltung wird daher oft als „Pinkwashing“ kritisiert. Shibuya bietet also ein stylisches Image, unterstützt werden aber nur diejenigen Minderheiten die Geld haben. Es gibt beispielsweise Kritik daran, dass die Obdachlosen die im Miyashita-Park gelebt haben von dort vertrieben wurden. Man hantiert mit Schlagworten wie „Diversität und Inklusion“, in Wirklichkeit werden Menschen aber danach beurteilt ob sie gewinnbringend sind oder nicht. Arme Menschen werden dadurch aus Shibuya ausgegrenzt. Deswegen glauben wir, dass das Trinkverbot nur eine Fortführung der bisherigen Bezirkspolitik ist.

Regenbogenfahne bei der Demo von „On The Road Shibuya“ am 28.6.2019

Zatsudan: Im Falle Japans ist es so, dass oft gesagt wird junge Leute hätten kein Interesse an Protestaktionen. Aber wenn man sich Bilder und Videos auf euren Social Media Pages ansieht, schaut es so aus als nähmen viele junge Leute an euren Aktionen teil. Weiters ist Shibuya kein Bezirk der für seine widerständige Subkultur bekannt ist wie etwa Kōenji oder Shimokitazawa, vielmehr wird er als Bezirk angesehen der fest im unpolitischen Mainstream verankert ist. Wieso kommen sogenannte „politisch uninteressierte“ Leute zu euren Aktionen?

On The Road Shibuya: Natürlich gibt es viele Leute die es mögen draussen auf der Straße Alkohol zu trinken. Schlicht und einfach gesagt: Die würden’s hassen, wenn sie’s nicht mehr dürften. Dass junge Leute kein Interesse an Politik haben liegt vielleicht daran dass sie denken, Politik hätte mit ihnen nichts zu tun. Auf der Straße zu trinken ist aber für diejenigen die in Shibuya ausgehen etwas ganz alltägliches, normales. Falls ihnen das weggenommen wird, dann ist es doch klar, dass sie das Scheisse finden.

Zatsudan: Aber es gibt doch auch viele Leute die sagen, dass man draußen keinen Lärm machen und stattdessen in Lokalen trinken sollte.

On The Road Shibuya: Das ist eine Frage die wir in unseren Reden öfters ansprechen. Nur ein Teil der Leute die in Shibuya ausgehen hat genug Geld um jedes Mal in Lokale oder Clubs zu gehen. Für Leute ohne genügend Geld ist das Trinken auf der Straße eine wichtige Möglichkeit Spaß zu haben. Für diese Leute wäre das also so, als würde man ihnen die Kneipe wegnehmen, das macht das Problem so heftig.

Zatsudan: Seit einigen Jahren werden viele Teile Tokyos, darunter vor allem Shibuya, stark gentrifiziert. Infolgedessen kommt es auch zur Räumung von von Obdachlosen besetzten Parks. Dagegen gab es auch einige Demos. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Vertreibungen und der durch Olympia befeuerten Gentrifizierung?

On The Road Shibuya: Wie ich schon vorher gesagt habe hat die Trinkverbots-Verordnung den Effekt dass arme Menschen aus dem Bezirk gedrängt werden. Wenn man kein Investor der viel Geld bringt oder kein Konsument der viel verbraucht, wird’s hart weiter in Shibuya zu bleiben. Das Ziel Shibuyas ist es Leute wie uns, die auf der Straße trinken, zu vertreiben. Das war schon so bevor die olympischen Spiele beschlossen wurden.

Ich glaube aber, dass die Olympischen Spiele diese Vertreibungspolitik ziemlich verschärfen.Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Trinkverbot während der Olympischen Spiele hindurch in Kraft sein wird. In Text der jetzigen Verordnung steht ja, dass das Trinkverbot nicht nur zu Halloween und Neujahr, sondern auch dann eingesetzt werden kann „wenn der Bürgermeister es für nötig erachtet“.

Wenn es soweit kommt, dass nur noch in Lokalen getrunken werden darf, dann kommen nur noch Reiche nach Shibuya. Die olympischen Spiele sind für Bezirksverwaltung und Großunternehmen, für die Profit ja an erster Stelle steht, eine willkommene Gelegenheit solcheart Vorstellungen umzusetzen.

Zatsudan: Aber die Alkoholverbotsverordnung besagt doch, dass es keine Geldstrafen gibt. Anders gesagt: Es scheint nur eine symbolische Verordnung zu sein. Man könnte doch sagen, all die Proteste haben gar keinen Sinn.

On The Road Shibuya: Shibuya sagt natürlich es handelt sich beim Trinkverbot nur um eine „Message des Bezirks nach Aussen“, aber so eine „Message“ sollte man ignorieren.

Der Bezirk sagt, man will das Trinkverbot in Kooperation mit der Polizei durchsetzen. Anders gesagt kann man davon ausgehen, dass es eine Verordnung ist welche auf Polizeimacht basiert. Außerdem besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Verordnung in Zukunft ausgeweitet wird. Der Bezirks sagt, dass es dieses Jahr zwar keine Strafen gebe wird, man sich die Situation des diesjährigen Halloween aber genau anschauen und über Geldstrafen nachgedacht wird. Wir haben keine Ahnung wie’s wirklich weitergeht, werden die Situation aber im Auge behalten.

Zatsudan: Vor einigen Wochen habt ihr beim Bezirk ja auch eine Petition mit der Forderung des Rückzugs des Alkoholverbots eingebracht. Gab es darauf seitens des Bezirks eine Reaktion?

On The Road Shibuya: Es gab eine Antwort welche besagte man werde drüber nachdenken und dass man mit der Forderung nicht d’accord geht.

Danke für das Interview.

Eine Online-Petition von „On The Road Shibuya“ kann man hier unterschreiben. Auch ein englischer Erklärungstext ist vorhanden:
chng.it/4HCCdBd9

Instagram und Twitter Account von „On The Road Shibuya“

4 Gedanken zu „Die Freiheit der Straße

  1. Lieber Herr Wakounig, sind Sie nun eigentlich in Japan? Ich habe Ihren Blog gestern entdeckt, im Kontext meiner Arbeit am Buch „NOlympics. Tokyo 2020 und seine Kritiker“, verlinkt durch „Labournet“… Und mit William Andrews stehe ich derzeit auch im Mailkontakt, er hat für das Buch auch einen Beitrag geschrieben…

      • Spannend – Matsumotos „alte Heimat“ (sein neuester Beitrag in Mag9 ist großartig) … Die derzeitige Präsidentin Tanaka Yûko ist eine gute Bekannte von mir, mit der ich einst über Edo geforscht habe. Ihre derzeitige Rolle finden ich – gelinde gesagt – ambivalent… Ich wollte nächste Woche nach Japan/Kyôto fliegen, um dort (aber auch in Tôkyô) einen Teil meines Forschungfreisemesters zu verbringen. Derzeit aber ist „Homeoffice“ angesagt, keine Ahnung, ob und wann ich fliegen kann. Dann aber melde ich mich auf jeden Fall bei Ihnen. Habe Sie/Ihren Blog gerade im Glossar unseres „NOlympics: Tôkyô 202Ø in er Kritik“ erwähnt, bes. Ihren Text über Shibuya…
        Bin gespannt, was Sie als nächstes schreiben – nach der Verschiebung wird springt der Wahnsinn nun zum Corona-Thema über, oder? Bleiben Sie gesund!

        • Etschuldigen sie die späte Antwort, Frau Richter.

          Über die Hosei gäbe es noch so viel zu schreiben. Vor allem darüber, wie die Räumung des Gakuseikaikan mit anschließendem lang andauernden gewaltsamen Rauswurf der linken StudentInnen quasi als Vorzeigemodell einer entpolitisierten, „sauberen“ neoliberalen Uni an andere japanische Universitäten exportiert wurde. Mehr dazu finden Sie in der dieswöchigen Ausgabe der deutschen linken Wochenzeitschrift „Jungle World“, in der meine Reportage über das besetzte Yoshida-StudentInnenwohnheim in Kyoto zu finden ist.

          Dass mein Blog auch in das Buch eingang fand finde ich toll und bedanke mich an dieser Stelle. Freue mich schon, den Band zu lesen.

          Und was Corona angeht: Schade, dass Sie noch nicht hier sind. Ich hoffe aber, so wie wohl alle, dass diser Wahnsinn in Bälde vorbei ist.

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