四月病 - Aprilkrankheit

Das StudentInnenleben in Japan ist weitaus durchorganisierter und kollektivistischer angelegt als etwa das in Europa. Ein zentraler Bestandteil davon sind „Clubs“ oder auch „Circles“ genannte Vereine, in denen StudentInnen verschiedenste Aktivitäten ausführen. Auch ich hatte vor kurzem mein erstes „Vorstellungsgespräch“ bei einem „Circle“ und möchte euch hier ein wenig über meine Erfahrungen erzählen.

„Shigatsubyou“ (四月病) bzw. „Aprilkrankheit“ wird in Japan das Gefühl genannt, wenn das neue Uni-Jahr anfängt und man noch voller Euphorie und Tatendrang ist. Wer sich jetzt wundert: In Japan fängt das neue Uni-Jahr nicht etwa wie in Europa im Herbst, sondern im April an. Aus diesem Grund wimmelt es auf den japanischen Campussen im Frühling auch von Erstsemestern.

Was jedoch auch auffällt ist die schiere Menge an Infoständen, Flyer verteilenden und Plakate in die Höhe haltenden, musizierenden, verkleideten usw. usw. StudentInnen. Kurz gesagt: Es ist „Shinkan“-Zeit. „Shinkan“ ist die Abkürzung für 新入生歓迎 (Shin-Nyuusei-Kangei) und bedeutet schlicht „Erstsemester-Empfang“. Organisiert wird der Shinkan jedoch nicht etwa von der Universität selber, sondern von den StudentInnen der jeweiligen Uni.

Die Anschlagtafel oder „Keijiban“ (掲示板) auf welcher die hunderten Circles und Clubs ihre Flyer und Poster aufhängen.

Ein typischer Infotisch eines Circles.

Auch der Bluegrass-Circle geigt auf.

Deren Ziel ist es nämlich, neue Mitglieder für ihre „Circles“ oder „Clubs“ genannten StudentInnenvereine zu organisieren. „Ah, der Uni-Sportverein!“ denken sich jetzt vielleicht einige von euch. Jedoch falsch! Ich rede hier nicht von „dem“ Uni-Sportverein und ein paar anderen Aktivitäten, die auf den meisten europäischen Unis stattfinden. Alleine auf meiner Uni, der Tohoku Daigaku in Sendai, gibt es über 100 verschiedene „Circles“ und „Clubs“. Die Palette reicht von Schach und Tabletop-RPGs über Bogenschießen, Segelfliegen (!) und Fußball, Anime, Manga, Videospiele, Kochen, Sticken, Bands, Orchesterproben, Cheerleading, Autofahren, Auto-Tuning, DJ-ing, Modellbau, Lesezirkel, Schreibzirkel, traditionelle Kunstformen, Roboterbau bis hin zu linksradikalen Gruppen. Und liebe Leute, ich habe hier nicht mal 10% aller Circles und Clubs angeführt. Den Überblick zu bewahren ist schlicht unmöglich! Ich habe während des Shinkan einen Rundgang über einen Teil meines Campus gemacht um die Atmosphäre einzufangen.

In einer kollektivistisch angelegten Gesellschaft wie der Japanischen ist es immens wichtig sich zu einer Gruppe hin zu definieren. Die Mitgliedschaft in einem „Circle“ oder „Club“ besteht also nicht nur daraus sich zum gemeinsamen Hobby zu treffen, sondern dient auch als soziales Lubrikant. So werden gemeinsame Aktivitäten organisiert: Man geht regelmässiig gemeinsam etwas trinken, ins Onsen (Therme), man hat gemeinsame Trainings, Schulungen usw. usw. Von einem Mitglied wird auch erwartet sich bei den Aktivitäten einzubringen. Je nach Gruppe können die Regeln für eine Mitgliedschaft auch recht strikt sein. Sprich: Wenn man die Gruppenaktivitäten schwänzt, kann man auch schon mal rausfliegen. Pech gehabt.

Sehr viele Circles und Clubs haben eigene Räumlichkeiten, welche sie selber verwalten. Betritt man beispielsweise die Circle-Räumlichkeiten der Tohoku Uni (wo ich studiere), wird man zuerst einmal erschlagen davon, wie sehr sich dieser Teil des Campus‘ vom Rest unterscheidet. Keine penible und etwas altbackene Sauberkeit, sondern überall massenweise Plakate, Zeug, auch Müll, ein Menschengewusel. Aus den Fenstern dringt gelächter, man hört Musikinstrumente. Es schaut aus wie eine einzige große StudentInnen-WG oder auch wie ein besetztes Haus in Europa.

Nicht umsonst waren Circle-Räumlichkeiten seit dem Ende des zweiten Weltkrieges auch Brutstätten des japanischen Untergrund und der Gegenkultur. Neuere Entwicklungen gehen jedoch in Richtung „sauberer Campusse“. So wurde Anfang der 2000er-Jahre eines der ältesten und Circle-Gebäude Japans, namentlich das der altehrwürdigen Waseda-Uni in Tokyo abgerissen. De Facto waren Teilbereiche des Riesenbaus von linksradikalen und militanten StudentInnen besetzt und es gab auch eine Protestwelle gegen die Räumung, welche mit einem heute legendären Campus-Rave endete welcher von Spezialeinheiten der Polizei gewaltsam beendet wurde.

Anstelle des zwar dreckigen, aber selbstverwalteten Gebäudes welches die Möglichkeit zur alternativen Nutzung des Universitätscampus‘ bot und auch Wege zum Ausbruch aus dem normierenden japanischen Alltagstrott erlaubte, steht am Waseda-Campus jetzt ein toter Glasbetonbau mit Überwachungskameras in den Gängen.

Zu guter letzt noch ein wenig über meine eigenen Erfahrungen mit Circles, welche doch recht jung sind, aber nichtsdesdotrotz. Seit ein paar Monaten bin ich Mitglied beim „Salon for linking academic world with the society“. Wir organisieren Vorträge und Diskussionen zu verschiedenen gesellschaftspolitischen Themen, sei es nun die japanische Überarbeitungskultur, Rechtsextremismus in Japan bis hin zu Themen wie anarchosyndikalistischen Bewegungen in Indien. Natürlich waren wir als Gruppe auch schon im Onsen (nochmals: Therme), gingen zusammen trinken, und so weiter und so fort.

Und vor ein paar Tagen füllte ich meinen Beitragsgesuch beim Circle für Manga-Forschung (東北大学漫画研究会) aus. Ich ging ins Circle-Gebäude und fand den kleinen Raum der bis zum bersten Voll war mit Mangas, Konsolen und Zeichenutensilien. Ausländische StudentInnen sah ich in diesem Gebäude kaum und die Mitglieder des Manga-Circles waren ziemlich erstaunt, dass ein Ausländer dem Circle beitreten will. Anfangs war ich ja doch ziemlich nervös, ob mein Japanisch denn reichen wird, aber letztendlich konnte ich mich problemlos verständigen. Ob ich nun letztendlich ein vollwertiges Mitglied werde oder nicht ist noch nicht klar, aber ich werde in den nächsten Tagen und Wochen auf jeden Fall noch bei anderen Circles und Clubs reinschnuppern.

Will man auf japanischen Universitäten aber FreundInnen finden, dann rate ich jedem und jeder, einem Circle oder Club beizutreten. Ich bin mir sicher bei der schieren Anzahl an Gruppen unmöglich ist keine zu finden die einem/einer gefällt. Und sollte das tatsächlich der Fall sein: Selber eine Gruppe zu gründen ist jederzeit möglich!

Ich weiß nicht ob es an meiner persönlichen Aprilkrankheit liegt an der ich gerade leide, aber ich finde es verdammt schade, dass es die Kultur der Circles und Clubs auf den meisten europäischen Universitäten kaum bis gar nicht gibt. Was meint ihr, liebe LeserInnenschafft? Hinterlasst doch ein Kommentar auf dieser Seite!

PS.: Es gibt auch die „Gogatsubyou“ (五月病), also „Maikrankheit“. Das Wort beschreibt das Gefühl, wenn die anfängliche Euphorie des Aprils der Ernüchterung über den Alltagstrott weicht. Hoffen wir mal, dass es mich nicht zu schwer erwischen wird.

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